Wirtschaft
anders denken.

Ökonomisches Denken rein in die Mitte der Gesellschaft

»Exploring Economics« ist die Sommerakademie für Plurale Ökonomik 2017 in Neudietendorf bei Erfurt überschrieben. Internationale Gäste und Teilnehmerinnen befassen sich mit Fragestellungen und neuen ökonomischen Paradigmen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

04.08.2017
Foto: privat
Vom 4. bis 11. August 2017 findet in Neudietendorf nahe Erfurt die »Exploring Economics -­ Sommerakademie für Plurale Ökonomik« statt. Diese internationale Konferenz entstand in Kooperation zwischen dem Netzwerk Plurale Ökonomik und der Evangelischen Akademie Thüringen. Gäste und Vortragende begeben sich auf die Suche nach neuen ökonomischen Paradigmen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Interviewpartner Simon Walch gehört zu den Aktiven im Netzwerk Plurale Ökonomik.

Das Netzwerk Plurale Ökonomik veranstaltet gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Thüringen die »Exploring Economics – Sommerakademie für plurale Ökonomik«. Wie kam es zu dieser Partnerschaft?

Simon Walch: Für uns als Netzwerk ist es wichtig, dass die Debatte um eine Veränderung in der Ökonomik, also den Wirtschaftswissenschaften, keine rein akademische Debatte bleibt. Für eine Veränderung brauchen wir eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Gleichzeitig merken eben auch immer mehr gesellschaftliche Akteure, dass ökonomisches Denken auch für ihre Themen und Anliegen wichtig ist. Deshalb kooperieren wir auch mit dem Club of Rome, und haben DozentInnen aus einem breiten Spektrum eingeladen. Auch in den Kirchen gibt es ein Interesse an Veränderungen im Denken über die Wirtschaft (bestes Beispiel ist die päpstliche Enzyklika »Laudato Si«), und als Institution hat die Evangelische Akademie Zugang zu anderen Bevölkerungsgruppen und potentiellen GeldgeberInnen. Wir ergänzen uns also sehr gut.

Die Debatte um eine Veränderung in der Ökonomik, den Wirtschaftswissenschaften, darf keine rein akademische Debatte bleiben.

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Zwei Seiten der Pluralen Ökonomik

Was ist mit pluraler Ökonomik gemeint, was verbirgt sich dahinter?

Darauf gibt es wohl zwei Antworten: Eine praktische und eine theoretische, wissenschaftsphilosophische. Beide sind wichtig. Also ein Versuch: Zuerst die praktische Antwort. Wenn Leute Wirtschaft studieren, dann rechnen sie mathematische Modelle hoch und runter. Funktionen – beispielsweise Nutzen, Profit oder BIP – unter Nebenbedingungen maximieren, das dürfte das Hobby der meisten Wirtschaftsstudierenden werden. Das ist zugespitzt und ein bisschen polemisch, aber vielleicht der Kern der Sache. Plurale Ökonomik heißt: Wirtschaft ist mehr. Wirtschaft hat genauso mit Werten zu tun, mit Identitäten oder Diskursen, mit Macht und Ungleichheit. Außerdem kann man Wirtschaft auch noch ganz anders mathematisch modellieren. Das ist die praktische Antwort.

Die theoretische ist, naturgemäß, ein bisschen komplizierter, geht aber in eine ähnliche Richtung. Wenn man sich vorstellt, dass Wirtschaft ist, wenn zwei Menschen handeln, also beispielsweise jemand beim Bäcker etwas kauft, dann kann man diesen Vorgang auf sehr unterschiedliche Weisen analysieren. Man kann sagen: Da handeln zwei Menschen eigennützig. Sie wollen das Beste für sich. Dann kann man aber auch sagen: Die haben gelernt, dass man das eben so macht und dass ein Brötchen eben so viel kostet und gut schmeckt und deshalb kommt dieses Geschäft zustande. Oder man sagt: Sie kommen ins Geschäft, weil das ihrer kulturellen Identität als Deutsche oder ihrer geschlechtlichen Identität als Mann oder Frau entspricht. Deutsche Männer essen Brötchen. Oder man sagt: Dieser Bäcker ist nur Angestellter in einer großen Kette und wird ausgebeutet, weil der Mehrwert seiner Arbeit von den Besitzern angeeignet wird. Oder man aggregiert einfach Tausende dieser Kaufentscheidungen auf Märkten und schaut, was dann auf dem Gesamtmarkt passiert. Ist der Preis stabil oder geht der erratisch rauf und runter?

Plurale Ökonomik heißt: Wirtschaft hat genauso mit Werten zu tun, mit Identitäten oder Diskursen, mit Macht und Ungleichheit.

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All diese Zugänge, all diese Theorien des Ökonomischen sind also wie Linsen: Je nachdem, welche man wählt, von welchem analytischen Standpunkt aus man die Welt anschaut, also: je nachdem wie man über Wirtschaft nachdenkt, sieht man andere Dinge. Und daraus ergeben sich andere wirtschaftspolitische Vorschläge. Muss man die Normen ändern? Muss man Identitäten kritisieren oder sich fragen, wie man über Brötchen spricht? Oder muss man andere wirtschaftliche Anreize setzen? Nichtsdestotrotz ist alles Wirtschaftspolitik. Plurale Ökonomik ist das alles und die Einsicht, dass all diese Perspektiven einen Erkenntnisgewinn bringen können.

Exploring Economics diskutiert alternative Ansätze in der Ökonomik

Menschen aus aller Welt werden sich vom 4.-11. August in Neudietendorf bei Erfurt treffen, um über alternative ökonomische Ansätze zu diskutieren. Meint dies grundsätzlich alternative Ansätze zur kapitalistischen Ökonomie? Welche alternativen Ansätze werden debattiert?

Nein, mit alternativ meinen wir nicht die Alternativen zur kapitalistischen Ökonomie. Wenn wir von alternativen ökonomischen Ansätzen sprechen, meinen wir die alternativen Ansätze in der Ökonomik (also den Wirtschaftswissenschaften), und zwar alternativ zur dominanten Theorieschule der Neoklassik.

Diese Alternativen (oft auch »heterodox« genannt, im Gegensatz zur »orthodoxen« Neoklassik) decken ein sehr breites Spektrum ab und unterscheiden sich zum Teil sehr stark voneinander. Es gibt natürlich dezidiert kapitalismuskritische Ansätze (z.B. marxistische Ökonomik), aber das ist längst nicht bei allen der Fall.

Nehmen wir den Postkeynesianismus, und als konkretes Beispiel die Perspektive des Ökonomen Hyman Minsky auf Finanzmärkte. Im radikalen Widerspruch zur Neoklassik sind für ihn Finanzmärkte dadurch gekennzeichnet, dass sie inhärent instabil sind: Eine Phase der Stabilität erhöht die Risikobereitschaft der Akteure, bis irgendwann die Anlagestrategien so riskant werden, dass der kleinste Anstoß genügt, um alles wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen zu lassen – mit weitreichenden Folgen für die Realwirtschaft. Ein relativ simples, aber intuitives Modell. Eine solche Perspektive sieht natürlich eine gänzlich andere Rolle für die Regulierungsbehörden vor, die viel aktiver eingreifen müssen, aber zugleich auch vor einer unlösbaren Aufgabe stehen: Je besser sie mit ihrer Regulierung den Markt stabilisieren, desto unbedachter wird investiert. Ziemlich nüchtern hält er fest, dass die Regierung von Zeit zu Zeit kleine Finanzkrisen durchgehen lassen sollte, um den ganz großen Crash zu verhindern.

Wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung revolutionieren

In der Ankündigung steht, dass sich hier vor allem Menschen versammeln, die sich eine andere Form der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung wünschen. Warum ist es dringend geboten, diese Ausbildung nicht nur zu reformieren, stattdessen zu revolutionieren, entstauben und aus der Erstarrung der ewig gleichen Lehren zu holen?

Ökonomische Theorien funktionieren – wie oben beschrieben – als Linsen: Sie helfen uns, bestimmte Aspekte der Realität wahrzunehmen oder scharf zu stellen – während gleichzeitig andere unscharf werden oder gar ganz aus dem Blickfeld verschwinden. Jede Theorie ist deshalb notwendigerweise immer partikular in ihrem Wahrheitsanspruch. Um also der Komplexität der sozialen Realität gerecht zu werden, brauchen wir eine Vielfalt von Perspektiven und Zugängen. Um im Bild zu bleiben: Wir müssen bei einer konkreten Fragestellung in der Lage sein, immer wieder die Linsen zu wechseln, um zu schauen, welche Perspektive welchen Erklärungsgewinn bringt.

Ökonomische Theorien funktionieren als Linsen: Um der Komplexität gerecht zu werden, brauchen wir eine Vielfalt von Perspektiven.

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Das Wirtschaftsstudium in seiner gegenwärtigen Form stellt diese Vielfalt an Analyseperspektiven und -instrumenten aber nicht zur Verfügung. Stattdessen wird die neoklassische Perspektive als die einzig mögliche, die einzig richtige dargestellt. Und das erzeugt genau dieses Problem: Die Menschen blicken mit intellektuellen Scheuklappen auf die Welt und nehmen vieles, was wichtig ist, gar nicht oder nur verzerrt wahr.

Angesichts der Zerstörung des Planeten, der wachsenden Ungleichheit, kaum noch aufhaltbaren Klimakatastrophe, ökonomischen Verwerfungen und daraus folgenden Vertreibungen und Kriegen scheint der Prozess des Wandels viel zu langsam vonstatten zu gehen. Lehre und Forschung sind behäbige Tanker, die einen langen Bremsweg haben. Woraus schöpfen die InitiatorInnen die Hoffnung, dass sich nicht nur etwas zum Besseren ändern, sondern dass es auch noch rechtzeitig geschehen kann?

Es stimmt, die gegenwärtige Weltlage lädt nicht zum Optimismus ein. Aber gerade weil die Herausforderungen so gewaltig sind, müssen wir die Dinge grundlegend hinterfragen. Der Versuch, das ökonomische Denken zu verändern, entsteht aus dem Wissen um die Macht der Ideen. Wenn wir es schaffen, in der Ökonomik etwas zu bewegen, dann kann das weitreichende Veränderungen nach sich ziehen, auch wenn wir das vielleicht erst in 10, 20 Jahren wirklich merken. Die Bewegung für »Plurale Ökonomik« hat vor allem seit der Finanzkrise kräftig Fahrt aufgenommen, aber erst in den letzten ein, zwei Jahren merken wir, dass wir greifbare Erfolge erzielen: In Kiel wurde beispielsweise kürzlich vereinbart, eine Professur für Plurale Ökonomik einzurichten. Da entsteht ein neuer Lern- und Diskursraum, das ist großartig. Wir brauchen einen langen Atem.

Damit möchte ich nicht sagen, dass die konkreten Projekte, das gezielte Engagement (z.B. die Seenotrettung flüchtender Menschen) überflüssig wären oder fehl am Platz sind. Wir brauchen beides. Aber unser Gefühl ist, dass viele Menschen sich für die konkreten Fragen, Herausforderungen und Projekte einsetzen, während diese langfristigen Prozesse eher wenig Beachtung bekommen. Und deshalb konzentrieren wir uns als Netzwerk Plurale Ökonomik darauf.

Themen und Vielfalt der Sommerakademie

Geben Sie uns bitte einen kurzen Einblick in die Inhalte und das Programm der Sommerakademie.

Es wird neun parallel laufende Workshops geben, die verschiedene Formen annehmen: Einige befassen sich intensiv mit einer ökonomischen Denkschule (z.B. Postkeynesianismus, marxistische Ökonomik, Komplexitätsökonomik, feministische Ökonomik), die im klassischen Wirtschaftsstudium nicht auftaucht. Andere drehen sich um die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Ökonomik (Philosophy of Economics), oder behandeln sehr konkrete, angewandte Fragestellungen: Wie denken wir über Wohlstand (Prosperity Economics)? Wie entwickelt sich die ökonomische Ungleichheit in Deutschland, Europa und weltweit (Ungleichheitsökonomik)? Wie kann wirtschaftspolitische Beratung aussehen, die die theoretische Vielfalt der Ökonomik ernstnimmt (Pluralism in Practice)? Und wie können wir auch Unternehmen jenseits der Shareholder-Value-Maximierung neu denken (Diverse Economies)? Außerdem gibt es Abendvorträge mit spannenden ReferentInnen zu aktuellen politischen Fragen und zwischendurch jede Menge Freiraum, in dem sich die Teilnehmenden austauschen oder neue Projekte entwickeln können.

 

Das Interview führte:

Kathrin Gerlof

OXI-Redakteurin

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